Ein Fahrplan für Europa nach der deutschen Bundestagswahl
Der August ist im politischen Deutschland normalerweise ein sehr ruhiger Monat. Es ist Urlaubszeit, und auch die Parlamentarier legen in dieser Phase eine Verschnaufpause ein. In diesem Jahr haben die deutschen Politiker aber keine Zeit, die Füße hochzulegen. Denn die sitzungsfreie Phase fällt genau mit dem Höhepunkt des Wahlkampfs zusammen, bevor dann am 22. September der deutsche Bundestag gewählt wird. Deshalb gehen viele Bürger offenbar davon aus, dass im September nicht nur die Urlaubszeit, sondern auch die aktuelle Flaute auf dem politischen Parkett Europas zu Ende geht. So hofft man, dass die Europäische Union (und zwar insbesondere die Eurozone) ihre strukturellen Probleme endlich angehen wird, sobald die Wahlen in Deutschland hinter uns liegen. Ich bin jedoch nicht wirklich davon überzeugt, dass dies der Fall sein wird. Und ich sage Ihnen auch gerne warum.
Ein Richtungswechsel in der Europapolitik birgt keine groβen Vorteile
Angela Merkel hat kürzlich angedeutet, dass sie die aktuelle Regierungskoalition mit den Liberalen von der FDP auch nach der Bundestagswahl im September gerne fortsetzen würde. Gleichzeitig streben die Sozialdemokraten (SPD) und die Grünen eine Neuauflage ihrer Wahlsiege aus den Jahren 1998 und 2002 an. In den Meinungsumfragen liegen die Christdemokraten von Angela Merkel zurzeit zwar deutlich vorn, doch ein neuerliches Regierungsbündnis mit der schwächelnden FDP ist momentan ebenfalls äußerst unsicher. Gleichzeitig ist eine Regierungskoalition aus SPD und Grünen derzeit wohl ebenso wahrscheinlich wie ein Sieg der englischen Fußball-Nationalmannschaft gegen Deutschland im Elfmeterschießen. Deshalb könnten die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD letztlich vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie entweder umgehend vorgezogene Neuwahlen ansetzen oder aber eine „große Koalition“ bilden. Ich tendiere zu der Auffassung, dass man den Willen der deutschen Wählerschaft, die dem Gedanken einer großen Koalition sehr wohlwollend gegenüber steht, letzten Endes nicht ignorieren würde. Schließlich deuten die jüngsten Ergebnisse einer der wichtigsten Meinungsumfragen in Deutschland, des ARD-DeutschlandTrends, darauf hin, dass 23 Prozent der Bevölkerung eine Koalition aus CDU/CSU und SPD bevorzugen würden, während die von den einzelnen Parteien favorisierten Bündnisse in den Umfragen bei jeweils lediglich 17 Prozent der Befragten Zustimmung finden. Darüber hinaus hat etwa die Hälfte der Deutschen eine Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD in den letzten Monaten als „gute“ oder sogar „sehr gute“ Option bezeichnet. Würde man unter der Annahme, dass die Stimmen der FDP für eine Mehrheit nicht ausreichen, den Unterstützern von CDU/CSU die Wahl des Koalitionspartners (Grüne und SPD) überlassen, so würden sich diese den Umfragen zufolge eindeutig für die SPD entscheiden. Aus diesem Grund ist wohl davon auszugehen, dass nach der Bundestagswahl wahrscheinlich entweder die amtierende Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP fortgesetzt oder aber eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD zustande kommen wird.
Bemerkenswert ist allerdings, dass das Thema Europa im aktuellen Wahlkampf keine große Rolle spielt. So ist die Europa-Politik offenbar kein Terrain, auf dem die führende Oppositionspartei SPD Wählerstimmen gewinnen oder sich eindeutig von der Politik der amtierenden Regierung abgrenzen kann. Dies zeichnete sich bereits in der letzten Legislaturperiode ab, in deren Verlauf die Oppositionsparteien dem Kurs von Angela Merkel in der Europa-Politik grundsätzlich toleriert haben. Angesichts dieser bisherigen politischen Ausrichtung sowie aufgrund der aktuellen Meinungsumfragen fehlen mir etwas die Argumente, weshalb sich der politische Alltag in Europa mit einer neu gewählten Regierung in Deutschland grundlegend ändern sollte. Vielmehr erwarte ich, dass man an dem pragmatischen Ansatz, der einerseits zwar auf Sparmaßnahmen setzt, andererseits aber auch genügend pragmatisches Entgegenkommen vorsieht, festhalten wird, um dadurch ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern. Dazu zählt dann auch ein weiteres Rettungspaket für Griechenland, das Bundesfinanzminister Schäuble bereits in Aussicht gestellt hat. Und im Inland hat sich diese politische Strategie bisher ja auch als recht erfolgreich erwiesen. Deshalb bedarf es für einen grundlegenden politischen Richtungswechsels eines wirklichen Katalysators. Aus diesem Grund werden sämtliche politische Entwicklungen im Hinblick auf die Zukunft Europas wahrscheinlich eher auf Grundlage eines längerfristigen Zeithorizonts erfolgen.
Eine stärkere Integration auf europäischer Ebene könnte in Deutschland eine Volksabstimmung notwendig machen
Während eine neu gewählte Bundesregierung es als politisch zu kostspielig erachten könnte, die gegenwärtige Europapolitik neu zu definieren, könnte sie außerdem Probleme bekommen, langfristig ausgerichtete strukturelle Reformen umzusetzen – von Euro-Bonds über eine weitere Zentralisierung der europäischen Haushaltspolitik bis hin zu einer vollständigen politischen und fiskalischen Union. So betonte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bereits im Jahr 2011, dass eine noch umfassendere Integration auf europäischer Ebene gegen die deutsche Verfassung verstoßen würde. Deshalb würde für eine Übertragung weiterer nationalstaatlicher Souveränität an die Europäische Union (z.B. die Festlegung des Staatshaushalts) seiner Meinung nach ein Volksentscheid erforderlich werden. Besonders bemerkenswert ist dies, weil es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz der Verabschiedung der neuen Verfassung, des Betritts zur Europäischen Union und der deutschen Wiedervereinigung – bisher keinerlei nationale Volksabstimmungen gegeben hat. Darüber hinaus nimmt die Vorbereitung eines solchen Referendums viel Zeit in Anspruch, und auch die Wahl des Zeitpunkts ist ein schwieriges Thema. In diesem Fall bräuchte man außerdem auch Zeit, der Bevölkerung genau zu erläutern, warum die geplanten strukturellen Veränderungen (wie etwa eine politische und fiskalische Union) auch im langfristigen Interesse der Bürger wären und welche Folgen solche Reformen für sie als deutsche Staatsbürger hätten. Wahrscheinlich würde ein solcher Volksentscheid dann auch auf der Verabschiedung eines neuen EU-Vertrags basieren, der die zukünftige politische und regierungspolitische Marschrichtung für Europa vorgeben würde. Der Prozess der Ratifizierung und der Inkraftsetzung des letzten EU-Vertrags (des so genannten „Lissabon-Vertrags“) hat beispielsweise mehr als fünf Jahre gedauert (von Juni 2004 bis Dezember 2009). Nimmt man grundsätzlich eine gewisse politische Bereitschaft zu einem solchen Schritt an, so könnte die nächste Bundestagswahl in Deutschland im Jahr 2017 ein vernünftiger Zeitpunkt darstellen, um die politischen Parteien explizit nach ihrer Position zu diesem Thema zu befragen und anschließend die Wähler selbst über ihre Zukunft innerhalb (oder aber außerhalb) Europas entscheiden zu lassen.
Angesichts der aktuellen Unsicherheit werden die politischen Entscheidungsträger die politischen und fiskalischen Kosten wohl nicht tragen wollen
Diese Aussage könnte unseren britischen Lesern durchaus vertraut vorkommen, denn die konservative Partei („Conservative Party“) hat bereits ihre Absicht angekündigt, die britische Bevölkerung 2017 über die Zukunft Großbritanniens in der Europäischen Union entscheiden zu lassen. Durch diese Festlegung der britischen Konservativen auf das Jahr 2017 sowie die Aussichten auf ein gegebenenfalls notwendiges Referendum in Deutschland (und auch in anderen europäischen Staaten) könnte für die Staats- und Regierungschefs in Europa nun ein vernünftiger Zeitrahmen festgesetzt worden sein, um ein Konzept für die zukünftige Institutionalisierung und die Integration innerhalb der Union (einschließlich der Eurozone) zu entwickeln. Dieses Konzept könnte dann in den jeweiligen Mitgliedsländern (inklusive Deutschland) ratifiziert werden. Dann könnte nicht 2013, sondern 2017 zu einem historisch bedeutsamen Jahr für die europäische Politik werden, weil sich die Wähler in den einzelnen Ländern dann für oder gegen ein stark integriertes Europa (in dem auch die Schuldenlast geteilt wird) aussprechen. Falls auch die nationalen Regierungen ein solches Szenario für Europa grundsätzlich erwarten, werden sich die politischen Entscheidungsträger aber wohl kaum auf politische und fiskalisch kostspielige Maßnahmen verständigen, die über den derzeitigen pragmatischen Ansatz bei der Europa-Politik hinausgehen. Dieses Argument gilt nicht nur im Hinblick auf die bereits erwähnten Staaten – Deutschland (abgesehen von Notfall-Rettungspaketen für Mitgliedsstaaten der Eurozone) und Großbritannien (gemeinsame Finanzaufsicht und EU-Bankenreform) – sondern auch für jene Regierungen, die in den Meinungsumfragen gerade unter Druck stehen. Ein sehr aktuelles Beispiel dafür ist die politische Situation in den Niederlanden. Dort würde die amtierende Regierung bei einer Wahl nur noch kümmerliche 23 Prozent der Stimmen erhalten, nachdem sie bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr ganze 53 Prozent der Stimmen errungen hatte. Gleichzeitig würde die rechtsgerichtete und europakritische Partei PVV bei einer solchen Wahl wohl etwa 10 Prozent mehr Stimmen erhalten.
Falls ich einen Fahrplan für Europa bis zum Jahr 2017 ausarbeiten müsste, würde der erste Teil dieser politischen Reise wahrscheinlich einem zähfließenden Stadtverkehr ähneln, bevor man jedoch letztlich auf eine Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auffahren könnte
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