Rettungsanker EZB: Besteht die Aussicht auf „Whatever it takes 2.0“?

Es waren, gelinde gesagt, zwei harte Wochen für die Anleihenmärkte. Die Risikobereitschaft der Anleger ist deutlich gesunken und die Märkte befinden sich im Risk-off-Modus. Als ich am Montag morgen auf meine Bildschirme schaute, sprang der iTraxx Xover – ein Barometer für das Kreditrisiko von europäischen Hochzinsanleihen – in Europa auf den höchsten Stand seit Mitte 2013, während die Rendite von 10-jährigen deutschen Bundesanleihen auf ein Allzeittief von unter -0,8% fiel.

In der Vergangenheit hat sich in turbulenten Marktphasen die Europäische Zentralbank (EZB) eingeschaltet und weitere geldpolitische Stimulusmaßnahmen angekündigt. Im März 2016 erklärte die EZB nach ein paar fürchterlichen Monaten für Risikoanlagen, dass sie ihr quantitatives Lockerungsprogramm durch Ankäufe von Unternehmensanleihen erweitern würde. Noch dramatischer ist, dass die berühmte „Whatever it takes“-Rede des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi im Juli 2012 weithin als einer der Schlüsselfaktoren für das Ende der europäischen Schuldenkrise gesehen wird. Angesichts der steigenden Gefahr durch das Coronavirus und der darauf folgenden Marktreaktionen richten sich nun alle Augen auf Christine Lagarde und ihre Kommentare nach der Sitzung des EZB-Rates am Donnerstag. Meines Erachtens hat die EZB diese Woche im Wesentlichen drei Optionen: Business as usual, eine moderate Reaktion oder Bazooka.

Option 1: Business as usual

In diesem Szenario erkennt die EZB lediglich die durch das Coronavirus ausgelösten erhöhten Risiken für die wirtschaftlichen Aussichten und die mittelfristige Inflation in der Eurozone an, aber sie sieht davon ab, ihren bereits sehr lockeren geldpolitischen Kurs zu ändern. Sie belässt den Einlagezins bei -0,5%, und das Nettokaufvolumen im Rahmen des Wertpapierkaufprogramms (Asset Purchase Programme, kurz APP) bleibt bei 20 Milliarden Euro pro Monat. Die Begründung hierfür wäre, dass die Geldpolitik allein nicht ausreicht und die Verantwortung in erster Linie bei den Regierungen und einer fiskalischen Lockerung liegt. Eine vorzeitige Einleitung von geldpolitischen Notfallmaßnahmen könnte tatsächlich kontraproduktiv sein. Das Umschalten der EZB in einen vollständigen Alarm-Modus könnte die Märkte noch weiter verunsichern. Auch angesichts der Tatsache, dass der Einlagezinssatz der EZB bereits deutlich negativ ist, was den Spielraum für weitere Zinssenkungen im Vergleich zu anderen Zentralbanken einschränkt, könnte die EZB zu dem Schluss kommen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll wäre, so viel Pulver wie möglich im Trockenen zu halten, um später entschlossen durchgreifen zu können, falls sich die Lage weiter verschlechtern sollte.

Obwohl es gute Gründe für ein „Business as usual“-Konzept geben mag, halte ich es nicht für ein wahrscheinliches Szenario. Erstens sind die Erwartungen der Marktteilnehmer im Hinblick auf weitere geldpolitische Impulse durch die EZB hoch. Während ich diesen Artikel hier schreibe, liegt die implizite Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung am Donnerstag unter Verwendung von Overnight-Index-Swaps bei nahezu 100%. Die EZB ist natürlich in keinster Weise verpflichtet, die Erwartungen des Marktes zu erfüllen. Doch eine Unterlassung der mit Spannung erwarteten Zinssenkung könnte weitere Turbulenzen an den Finanzmärkten auslösen, was die EZB lieber verhindern möchte. Zweitens könnte die EZB in einer Welt, in der andere Zentralbanken – z. B. die Fed, die Bank of Australia und die Bank of Canada – als Reaktion auf das Coronavirus Zinssenkungen beschlossen haben, mit einer Beibehaltung der Zinsen schnell zum Außenseiter werden, was den Euro unter noch größeren Aufwärtsdruck setzen würde. Er hat sich seit Mitte Februar gegenüber dem US-Dollar bereits um fast 6% verteuert. Eine weitere Aufwertung des Euro wäre ein zusätzlicher Gegenwind für die exportorientierten europäischen Unternehmen – und damit auch für die Wirtschaft der Eurozone insgesamt –, die bereits unter der durch das Coronavirus verursachten Nachfrageschwäche und der Unterbrechung der Lieferketten leidet. Um es ganz klar zu sagen: Das Mandat der EZB beinhaltet nicht die aktive Steuerung der Eurostärke auf dem Devisenmarkt. Aber ein Ende der aktuellen Euro-Rallye wäre zumindest ein wünschenswerter Nebeneffekt einer Zinssenkung, wenn auch nicht ihr Hauptgrund, und könnte dazu beitragen, die europäische Inflation durch steigende Importpreise näher an ihr Ziel zu bringen.

In dem Versuch, die Märkte zu beruhigen – mit dem zusätzlichen Vorteil, dass die Aufwertung des Euro gebremst wird – wird die EZB am Donnerstag meiner Ansicht nach Maßnahmen ergreifen. Wenn ja, lautet die zentrale Frage natürlich: Wie weit wird die EZB gehen? Das führt uns zu den Optionen 2 und 3.

Option 2: Moderate Reaktion

In diesem Szenario senkt die EZB die Zinsen nur geringfügig, sagen wir um 10 Basispunkte (bps). Dies würde den Einlagezins auf ein neues Rekordtief von -0,6% bringen. Gleichzeitig werden die monatlichen Nettowertpapierkäufe auf vielleicht 60 oder sogar 80 Milliarden Euro pro Monat erhöht. Das wäre eine Verdreifachung bzw. Vervierfachung des Kaufvolumens von derzeit 20 Milliarden Euro, aber es wäre kein Neuland. In der Vergangenheit hat die EZB bereits monatliche Ankäufe in Höhe von 60 Milliarden Euro (März 2015 bis März 2016 und April bis Dezember 2017) bzw. 80 Milliarden Euro (April 2016 bis März 2017) getätigt.

Dies ist vielleicht das wahrscheinlichste Szenario, aber wohl auch das am wenigsten wünschenswerte. Es besteht die Gefahr, dass die EZB das Schlimmste aus beiden Welten erzielen würde. Moderate geldpolitische Maßnahmen der EZB werden, wenn sie nicht von erheblichen fiskalischen Impulsen begleitet werden, wahrscheinlich nicht ausreichen, um den Märkten, die gerade eine Kürzung um 50 Basispunkte der Fed hingenommen haben, dauerhaftes Vertrauen zu vermitteln. Der Risk-off-Modus könnte sich leicht zu einer ausgewachsenen Marktkrise ausweiten. Gleichzeitig hätte die EZB einen Teil ihres Pulvers verschossen und damit den Umfang zusätzlicher Notfallmaßnahmen eingeschränkt, die in Zukunft erforderlich sein könnten, wenn die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des COVID-19-Ausbruchs die derzeitigen Prognosen übersteigen.

Option 3: Das Bazooka-Szenario

Die Idee bei diesem Szenario ist, einen weiteren „Whatever it takes“-Moment zu erzeugen, der sofort zur Beruhigung der Märkte beiträgt und eine ausgewachsene Panik unter den Anlegern verhindert, die, wenn sie nicht kontrolliert wird, die Stabilität des Finanzsystems gefährden und letztlich die Realwirtschaft bedrohen könnte. In diesem Szenario handelt die EZB sowohl in Bezug auf die Zinsen als auch auf den Ankauf von Vermögenswerten couragiert. Die Zinsen werden um mindestens 25 Basispunkte gesenkt, was den Einlagezins der EZB auf -0,75% und damit auf das Niveau des Leitzinses der Schweizerischen Nationalbank bringen würde. Darüber hinaus wird das Volumen der Wertpapierkäufe auf über 80 Milliarden Euro pro Monat erhöht, vielleicht auf 100 Milliarden Euro. Um den Marktteilnehmern zu signalisieren, dass die EZB noch genug Munition hat, um den Kauf von Vermögenswerten in Zukunft gegebenenfalls noch weiter zu erhöhen, müssten manche Regeln des Ankaufprogramms geändert werden.

  • Nach den Bestimmungen des Kaufprogramms für Wertpapiere des öffentlichen Sektors (Public Sector Purchase Programme, kurz PSPP) richtet sich der Kauf von Staatsanleihen nach dem Kapitalschlüssel der EZB. Da Deutschland in diesem Kapitalschlüssel eine hohe Gewichtung hat und seine Verschuldung relativ gering ausfällt, schloss das Land das Jahr 2019 mit einem Rekord-Haushaltsüberschuss von 13,5 Milliarden Euro ab, und Bundesanleihen sind zu einem Engpass im Programm geworden. Um auf sinnvolle Weise mehr Spielraum zu schaffen, könnte die Kapitalschlüsselregelung vorübergehend ausgesetzt werden, so dass die EZB ihre Käufe stärker auf italienische Staatsanleihen ausrichten könnte, von denen es viele gibt. Politisch wäre dieser Schritt natürlich sehr umstritten. Doch angesichts der Tatsache, dass Italien derzeit stärker als alle anderen europäischen Länder vom Ausbruch des Coronavirus betroffen ist, scheint die Regeländerung zumindest gerechtfertigt. Wenn die EZB jemals den Kapitalschlüssel außer Kraft setzen möchte, ist jetzt der richtige Zeitpunkt.
  • Die Bestimmungen des Kaufprogramms für Unternehmensanleihen (Corporate Sector Purchase Programme, kurz CSPP) verbieten den Kauf von Anleihen, die von Banken emittiert wurden. Da Bankanleihen etwa 30% des Universums europäischer Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating ausmachen, würde ihre Aufnahme in das CSPP zu einer erheblichen Kapazitätssteigerung beitragen. Sie wäre auch noch einem anderen Zweck dienlich. Die Rentabilität der Banken würde unter der starken Zinssenkung im Bazooka-Szenario leiden. Die Aufnahme von Bankanleihen in das CSPP-Programm und somit eine effektive Senkung der Finanzierungskosten würde dazu beitragen, den Schlag gegen das europäische Bankensystem abzumildern.

So verlockend es auch sein mag, die große Bazooka auszupacken, es ist eine Strategie mit hohem Risiko. Wenn es funktioniert und eine echte Krise – sowohl an den Märkten als auch in der Realwirtschaft – durch entschlossenes Handeln der EZB frühzeitig abgewendet werden kann, würde Christine Lagarde unter den Zentralbankern sofort zum Superstar werden. Wenn dieser Schritt aber nicht durch abgestimmte fiskalische Lockerungsmaßnahmen flankiert wird, könnte der Bazooka-Ansatz auch leicht nach hinten losgehen. Wenn die Maßnahmen scheitern, die Märkte weiter einbrechen und die geldpolitischen Impulse nicht in der Realwirtschaft ankommen, hätte die EZB in Zukunft keinen großen Handlungsspielraum mehr. Und die Märkte wüssten, dass die EZB – und andere Zentralbanken – ihr Pulver verschossen hätten.

Insgesamt ist Christine Lagarde in dieser Woche nicht zu beneiden, denn die EZB steckt in der Klemme. Tatenlosigkeit oder halbherzige Maßnahmen könnten zu einer weiteren Verschlechterung der Marktstabilität führen, die sich bald zu einer ausgewachsenen Krise ausweiten und sowohl die Finanzmärkte als auch die Realwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen könnte. Alles auf eine Karte zu setzen, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Anlegerstimmung umzukehren, bevor die Dinge noch weiter eskalieren, birgt jedoch das Risiko, später ohne jeglichen Handlungsspielraum dazustehen. Für Anleger wird es schwierig, sich an den Märkten zu behaupten. Da es keinen offensichtlichen Weg für die EZB – oder irgendeine andere Zentralbank – gibt, ist es eine riskante Strategie, auf ein bestimmtes geldpolitisches Ergebnis zu setzen.

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Wolfgang Bauer

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